Kapitel 15
Diese Ankündigung verursachte bei den Zuhörern einige Unruhe. Vandergelt stieß ein lautes »Du heiliger Strohsack!« aus, und Mary riß die Augen weit auf. Sogar der nicht so leicht zu erschütternde junge Deutsche starrte Emerson überrascht an.
»Mörder?« wiederholte O’Connell.
»Selbstverständlich wurde er ermordet«, sagte Emerson ungeduldig. »Kommen Sie, Mr. O’Connell, Sie haben das doch schon die ganze Zeit über vermutet, obwohl Sie nicht die Unverschämtheit besaßen, es in Ihren Zeitungsberichten zu erwähnen. Die Abfolge gewaltsamer Tragödien, die sich hier zugetragen haben, führt zwingend zu dem Schluß, daß Lord Baskerville keines natürlichen Todes gestorben ist. Ich habe den Fall untersucht und werde bald in der Lage sein, Ergebnisse bekanntzugeben. Ich warte nur noch auf einen letzten Beweis. Morgen nacht oder am folgenden Vormittag werde ich ihn erhalten. Übrigens, Amelia«, fügte er hinzu und sah mich an, »versuche nicht, meinen Boten abzufangen. Die Nachricht, die er bringt, hat nur für mich eine Bedeutung. Du würdest sie nicht verstehen.«
»Wirklich?« meinte ich.
»Nun gut«, sagte O’Connell. Er schlug die Beine übereinander, legte sein Notizbuch auf die Knie und sah Emerson mit dem koboldhaften Grinsen an, das anzeigte, daß er jetzt ganz der Reporter war. »Sie möchten mir wohl keinen kleinen Hinweis geben, oder, Professor?«
»Ganz bestimmt nicht.«
»Aber nichts kann mich daran hindern, ein bißchen zu spekulieren, nicht wahr?«
»Auf eigene Gefahr«, antwortete Emerson.
»Keine Angst, ich habe ebensowenig Lust wie Sie, mich frühzeitig festzulegen. Hmmm. Ja, die Sache wird eine vorsichtige Wortwahl erfordern. Entschuldigen Sie mich bitte. Ich mache mich besser an die Arbeit.«
»Vergessen Sie Ihr Versprechen nicht«, sagte ich.
»Sie können den Artikel sehen, ehe ich ihn wegschicke«, erwiderte O’Connell. Pfeifend und schwungvollen Schrittes machte er sich davon.
»Wir anderen ziehen uns am besten auch zurück«, schlug Emerson vor. »Vandergelt, kann ich morgen, wenn ich das Grab öffne, auf Ihre Hilfe zählen?«
»Um nichts in der Welt würde ich mir das entgehen lassen … Das heißt, wenn du nichts dagegen hast, Liebling.«
»Nein«, antwortete Lady Baskerville müde. »Tu, was du willst, Cyrus. Die jüngsten Neuigkeiten haben mich sehr mitgenommen.«
Nachdem sie, auf Vandergelt gestützt, gegangen war, wandte Emerson sich an mich. Noch ehe er sprechen konnte, machte ich eine warnende Handbewegung.
»Ich glaube, Karl möchte dich etwas fragen, Emerson. Entweder das, oder er ist im Schatten eingeschlafen.«
Emerson machte ein erstauntes Gesicht. Karl war so ruhig gewesen, und die Ecke, in der er gesessen hatte, lag so weit von der nächsten Laterne entfernt, daß er möglicherweise eingenickt war. Allerdings vermutete ich einen weniger unschuldigen Grund. Nun erhob er sich und kam auf uns zu.
»Ich möchte den Herrn Professor nichts fragen, sondern ihn warnen. Es war sehr töricht zu sagen, was Sie gesagt haben. Sie haben dem Mörder den Fehdehandschuh hingeworfen.«
»Du meine Güte«, meinte Emerson. »Wie nachlässig von mir.«
Von Bork schüttelte den Kopf. In der letzten Woche hatte er stark abgenommen, und das Licht der Laternen betonte die Schatten unter seinen Wangenknochen und in seinen Augenhöhlen.
»Sie sind kein dummer Mann, Herr Professor. Ich frage mich, warum Sie so gehandelt haben. Aber«, fügte er mit der Andeutung eines Lächelns hinzu, »ich erwarte keine Antwort. Gute Nacht, Herr Professor, Frau Professor – schlafen Sie wohl.«
Stirnrunzelnd beobachtete Emerson, wie der junge Mann davonging. »Er ist der Klügste von dem Haufen«, murmelte er. »Vielleicht habe ich eben einen Fehler gemacht, Peabody. Ich hätte anders mit ihm umgehen sollen.«
»Du bist müde«, sagte ich großmütig. »Kein Wunder nach dem ganzen Geschrei und Herumgespringe. Komm’ ins Bett.«
Arm in Arm schlenderten wir über den Hof, und Emerson stellte beim Gehen fest: »Ich glaube, ich habe einen leichten Anflug von Tadel aus deiner Bemerkung herausgehört, Amelia. Meine meisterhafte Vorführung als >Geschrei und Herumgespringe< zu bezeichnen, dürfte wohl kaum …«
»Daß du getanzt hast, war ein Fehler.«
»Ich habe nicht getanzt, sondern einen feierlichen, rituellen Marsch aufgeführt. Der Umstand, daß der Platz begrenzt war …«
»Ich verstehe. Es war der einzige Makel an einer ansonsten grandiosen Vorstellung. Ich nehme an, die Männer haben sich bereiterklärt, wieder an die Arbeit zu gehen?«
»Ja. Abdullah steht heute nacht Wache, aber ich rechne nicht mit irgendwelchen Schwierigkeiten.«
Ich öffnete die Tür zu unserem Zimmer und zündete die Lampe an. Der Docht flammte auf, und das Licht ließ das Fell von Bastet, die auf einem Tisch am Fenster saß, in Hunderten feuriger Funken aufschimmern. Sobald sie Emerson erblickte, gab sie ein begeistertes, kehliges Miau von sich und trippelte auf ihn zu.
»Womit hast du dieses Tier angelockt?« fragte ich, während ich zusah, wie Bastet an Emersons Jackenschößen kratzte.
»Mit Hühnchen«, antwortete Emerson. Er zog ein fettiges Päckchen aus der Hosentasche. Zu meinem Bedauern bemerkte ich, daß es einen scheußlichen Fleck hinterlassen hatte. Dabei läßt sich Fett so schwer herauswaschen.
»Du nimmst besser Lady Baskervilles Armband von ihrem Hals«, meinte ich. »Wahrscheinlich hat sie schon die Hälfte der Steine verloren.«
In der Tat stellte sich heraus, daß das der Fall war. Als ich den bedrückten Ausdruck auf Emersons Gesicht sah, während er das Gewicht und den Wert der Rubine und Smaragde abzuschätzen versuchte, die er würde ersetzen müssen, vergab ich ihm, daß er sich wegen seiner Vorstellung so aufgeplustert hatte.
Als ich am nächsten Morgen nach Arthur sah, begrüßte mich die Schwester und teilte mir mit, daß der Patient eine ruhige Nacht verbracht hatte. Sein Gesicht hatte eine gesündere Färbung angenommen – die ich auf die kräftigende Wirkung der Hühnerbrühe zurückführte –, und als ich ihm die Hand auf die Stirn legte, lächelte er im Schlaf und murmelte etwas.
»Er ruft nach seiner Mutter«, sagte ich und wischte mir mit dem Ärmel eine Träne aus dem Auge.
»Vraiment?« fragte die Schwester zweifelnd. »Er hat ein- oder zweimal gesprochen, aber so leise, daß ich die Wörter nicht unterscheiden konnte.«
»Ich bin mir sicher, daß er >Mutter< gesagt hat. Und vielleicht wird er, wenn er aufwacht, das Gesicht dieser guten Frau über seinem Bett sehen.« Ich gestattete mir das Vergnügen, mir diese anrührende Szene vorzustellen. Natürlich würde auch Mary dabeisein. (Ich mußte wirklich etwas wegen der Kleider des armen Kindes unternehmen; ein hübsches weißes Gewand wäre genau das richtige gewesen.) Arthur würde ihre Hand zwischen seinen mageren, abgezehrten Fingern halten und seine Mutter bitten, ihre neue Tochter zu begrüßen.
Zwar hatte Mary verkündet, sie werde den Rest ihres Lebens ihrer eigenen Mutter widmen, doch das waren nur die romantischen Phantasien eines jungen Mädchens. Die Liebe zum Martyrium, besonders in der Form von Lippenbekenntnissen, kommt bei jungen Menschen häufig vor. Ich war diesem Phänomen bereits begegnet und zweifelte nicht an meiner Fähigkeit, dieser Liebesgeschichte zu einem glücklichen Ende zu verhelfen.
Allerdings wurde es immer später, und falls ich Mary als die neue Lady Baskerville erleben wollte, mußte ich dafür sorgen, daß ihr Bräutigam überlebte. Ich warnte die Nonne noch einmal, dem Kranken nur die Speisen zu geben, die ich selbst oder Daoud ihr brachten.
Dann suchte ich meine nächste Patientin auf. Ein Blick ins Zimmer versicherte mir, daß Madame meiner Pflege nicht bedurfte. Sie schlief den ruhigen Schlaf der Ungerechten und atmete regelmäßig. Es ist eine Fehleinschätzung, daß die Unschuldigen mit einem guten Schlaf gesegnet sind. Je böser ein Mensch ist, desto tiefer schläft er, denn wenn er ein Gewissen hätte, wäre er ja kein Schurke.
Als ich das Speisezimmer betrat, knurrte Emerson mich an, weil ich zu spät kam. Er und Mary hatten ihr Frühstück bereits beendet.
»Wo sind die anderen?« fragte ich, wobei ich ein Stück Toast mit Butter bestrich und nicht auf Emersons Aufforderung achtete, es mitzunehmen und im Gehen zu essen.
»Karl ist schon vorausgegangen«, antwortete Mary. »Kevin ist nach Luxor zum Telegraphenamt gefahren …«
»Emerson!« rief ich aus.
»Es ist in Ordnung, er hat mir den Artikel gezeigt«, erwiderte Emerson. »Es wird dir Spaß machen, ihn zu lesen, Amelia. Der junge Mann hat eine fast ebenso blühende Phantasie wie du.«
»Vielen Dank. Mary, Ihrer Mutter scheint es heute morgen besser zu gehen.«
»Ja, sie hatte schon öfter diese Anfälle und hat sich immer erstaunlich schnell erholt. Sobald ich mit der Kopie des Gemäldes fertig bin, werde ich dafür sorgen, daß sie nach Luxor zurückgebracht wird.«
»Es besteht kein Grund zur Eile«, sagte ich mitfühlend. »Morgen vormittag ist noch früh genug; heute abend werden Sie nach der Arbeit in dieser Hitze sicherlich erschöpft sein.«
»Nun, wenn Sie wirklich meinen«, sagte Mary zweifelnd. Ihr niedergeschlagener Gesichtsausdruck erhellte sich ein wenig. Auch wenn man fest entschlossen ist, sich würdevoll ins Martyrium zu fügen, ist ein Tag Pause nicht zu verachten. Ich bin mir sicher, daß selbst die frühen christlichen Heiligen keinen Einspruch angemeldet hätten, wenn Cäsar die Fütterung der Löwen auf die nächste Vorstellung hätte verschieben lassen.
Da ich Emersons Gequengel satt hatte, beendete ich mein Frühstück, und wir bereiteten uns zum Aufbruch vor. »Wo ist Mr. Vandergelt?« fragte ich. »Ich dachte, er wollte uns begleiten.«
»Er bringt Lady Baskerville hinüber nach Luxor«, antwortete Emerson. »Wegen der bevorstehenden Hochzeit mußte noch einiges erledigt werden, und ich habe die Dame überredet, dort zu bleiben und einige Einkäufe zu machen. Das muntert Damen doch immer auf, oder nicht?«
Ich warf Emerson einen argwöhnischen Blick zu. Er drehte sich um und versuchte zu pfeifen. »Nun denn«, meinte er. »Brechen wir also auf. Vandergelt wird sich uns später anschließen. Es wird noch einige Zeit dauern, bis wir die Wand niederreißen können.«
Tatsächlich war der Vormittag schon weit fortgeschritten, als unsere Vorbereitungen sich ihrem Ende näherten. Die Luft in den Tiefen des Grabes war immer noch stickig und die Hitze so unglaublich, daß ich mich weigerte, Mary mehr als zehn Minuten am Stück arbeiten zu lassen. Trotz seiner Ungeduld hatte Emerson mir beigepflichtet, daß das vernünftig sei. In der Zwischenzeit beschäftigte er sich damit, den Bau einer soliden hölzernen Abdeckung für den Brunnenschacht zu beaufsichtigen. Karl hatte die Bedienung der Kamera übernommen. Und ich?
Sie wissen wenig von meinem Charakter, werter Leser, wenn Sie sich nicht vorstellen können, welche Gedanken mir im Kopfe herumgingen. Ich saß im Schatten meines Zeltdaches und war vorgeblich dabei, maßstabgetreue Zeichnungen von Tonscherben anzufertigen, doch die fröhlichen Rufe und Flüche, die Emerson ausstieß, während er die Arbeit der Zimmerleute überwachte, erweckten in mir die schlimmsten Vermutungen. Er schien sich seiner selbst sehr sicher zu sein. War es wirklich möglich, daß er, was die Identität von Lord Baskervilles Mörder anbelangte, richtig lag und ich mich geirrt hatte? Ich konnte das nicht glauben. Trotzdem beschloß ich, daß es ratsam sein könnte, meinen Gedankengang im Licht der jüngsten Ereignisse noch einmal durchzuspielen. Falls es nötig werden sollte, konnte ich mir ja immer noch einen Weg einfallen lassen, den Namen im Umschlag zu ändern.
Ich blätterte die Seite in meinem Skizzenblock um, ließ die Töpfe links liegen und widmete mich meinem Fall. Ich beabsichtigte, eine ordentliche kleine Tabelle zu erstellen, und die verschiedenen Motive, Gelegenheiten zur Tat und so weiter darin festzuhalten.
Also begann ich.
Der Tod von Lord Baskerville
Verdächtige:Lady Baskerville
Motiv zum Mord an:
Lord Baskerville. Erbschaft. (Wieviel Lady Baskerville erben würde, wußte ich natürlich noch nicht; aber ich war mir sicher, daß das als Grund für die Beseitigung ihres Gatten genügen würde. Allen Aussagen zufolge mußte er ein außergewöhnlich langweiliger Mensch gewesen sein.)
Armadale. Er war Zeuge des Verbrechens gewesen. Das Zimmer, in dem er gewohnt hatte, lag neben dem von Lady Baskerville. (Allerdings erklärte das nicht, warum Armadale verschwunden war. Hatte er vor Entsetzen den Verstand verloren, nachdem er mitangesehen hatte, wie Lady B. ihren Gatten ermordete? Und wie, zum Teufel, – wie Emerson gesagt hätte – hatte sie ihn niedergemetzelt? Wenn ein unbekanntes, nicht zu ermittelndes Gift benutzt worden wäre, hätte Armadale bloß gesehen, wie Lord Baskerville eine Tasse Tee oder ein Glas Sherry trank.)
Hassan. Hassan hatte Armadale gesehen und etwas beobachtet – möglicherweise eben das nämliche Fenster, durch das der »Geist« gestiegen war –, was die Identität des Mörders verriet. Erpressungsversuch; Beseitigung des Erpressers.
Zufrieden las ich den letzten Abschnitt noch einmal durch. Es ergab Sinn. Eigentlich kamen die Motive für den Mord an Hassan bei allen Verdächtigen in Frage.
Der nächste Abschnitt meiner kleinen Tabelle war nicht so wohlgeordnet. Lady Baskervilles Motive dafür, daß sie Arthur auf den Kopf geschlagen hatte, lagen im dunkeln, außer es gab eine Klausel im Testament seiner Lordschaft, die gewisse Besitzungen im Falle, daß der Erbe des Titels starb, an seine Frau übergehen ließ. Das kam mir nicht nur unwahrscheinlich, sondern ganz und gar ungesetzlich vor.
Beharrlich wandte ich mich dann der Frage der Gelegenheit zu.
Lord Baskerville. Seine Frau hatte eine ausgezeichnete Gelegenheit, an ihn heranzukommen. Aber wie zum Teufel hatte sie es getan.
Armadale. Keine Gelegenheit. Woher wußte Lady Baskerville, wo sich die Höhle befand? Wenn sie Armadale im Haus oder in dessen Nähe ermordet hatte, hätte sie die Leiche in die Höhle schaffen müssen – für eine Frau offensichtlich unmöglich.
Schwach, sehr schwach! Fast konnte ich Emerson frohlocken hören. Die Wahrheit war, daß ich mir wünschte, Lady Baskerville sei die Mörderin. Ich hatte die Frau noch nie ausstehen können.
Bedrückt betrachtete ich meine Tabelle, die nicht so aufging, wie ich gehofft hatte. Seufzend blätterte ich eine Seite um und versuchte es mit einem anderen Ansatz.
Der Tod von Lord Baskerville
Verdächtiger:Arthur Baskerville, alias Charles Milverton.
Das sah gut und professionell aus. Ermutigt fuhr ich fort:
Motiv:Erbschaft und Rache. (So weit, so gut.)
Tatsächlich hatte Arthur ein außergewöhnlich starkes Motiv. Es erklärte auch, warum er sich so närrisch verhalten und sich seinem Onkel unter einem falschen Namen vorgestellt hatte. Das war die Tat eines romantischen jungen Esels. Arthur war ein romantischer junger Esel; aber falls er schon im vorhinein geplant hatte, seinen Onkel umzubringen, hatte er einen guten Grund, einen falschen Namen anzunehmen. Nachdem Baskerville tot war (wie? verdammt, wie?), konnte Arthur nach Kenia zurückkehren, und es war höchst unwahrscheinlich, daß jemand eine Verbindung zwischen Arthur, Lord Baskerville und dem früheren Mr. Milverton herstellte. Wahrscheinlich würde er Titel und Besitzungen beanspruchen, ohne überhaupt nach England zu reisen, und falls das doch noch nötig werden sollte, konnte er sich immer noch eine Ausrede einfallen lassen, um Lady Baskerville nicht über den Weg zu laufen.
Zu meinem Schrecken stellte ich fest, daß die Tabelle sich quer über die ganze Seite ausgebreitet hatte. Ich nahm mich zusammen, umfaßte fest den Bleistift und kehrte zur angemessenen äußeren Form zurück.
Der Tod von Lord Baskerville
Verdächtiger:Cyrus Vandergelt. Seine Motive waren nur zu offensichtlich. In Verletzung des strengen Gebots der Heiligen Schrift hatte er das Weib seines Nächsten begehrt.
An diesem Punkt fiel mir ein, daß ich noch nicht auf Arthurs Tatwerkzeug und seine Gelegenheit eingegangen war und auch nicht erklärt hatte, wer ihn niedergeschlagen hatte, wenn er der eigentliche Mörder war.
Zähneknirschend blätterte ich um und versuchte es aufs neue.
Der Mord an Alan Armadale
Dieser Ansatz basierte auf der Annahme, daß der Tod von Lord Baskerville uns auf den Holzweg geführt hatte – oder, um es eleganter auszudrücken, daß seine Lordschaft eines natürlichen Todes gestorben war; daß es sich bei dem Zeichen auf seiner Stirn um einen bedeutungslosen Flecken handelte, den sensationslüsterne Menschen falsch gedeutet hatten; und daß sich der Mörder den Aufruhr, der aus dem Tod seiner Lordschaft entstanden war, zunutze gemacht hatte, um einen Mord zu begehen, dessen wahres Motiv dadurch verschleiert werden würde.
In diesem Fall war offensichtlich Mr. O’Connell der Verdächtige. Er hatte aus der Geschichte mit dem Fluch nicht nur Kapital geschlagen, er hatte sie erfunden. Ich glaubte nicht, daß er Armadale kaltblütig umgebracht hatte, nein, der Mord war offenbar Folge eines plötzlichen Anfalls leidenschaftlicher Eifersucht. Nachdem die Tat begangen war, hätte ein kluger Mann – und um einen solchen handelte es sich bei O’Connell unzweifelhaft – wahrscheinlich erkannt, wie er den Verdacht von sich ablenken konnte; nämlich indem er einen Zusammenhang zwischen Armadales Tod und dem von Lord Baskerville herstellte.
Das gleiche Motiv – Liebe zu Mary – ließ sich auch im Fall Karl von Bork anwenden. Meiner Ansicht nach war er nicht zu der Form von wilder Leidenschaft befähigt, die einen Mann zu gewalttätigem Handeln treiben kann. Aber stille Wasser gründen tief. Und Karl hatte ein- oder zweimal Gefühl und Schlauheit von ungeahnter Tiefe offenbart.
Inzwischen war meiner Tabelle nicht einmal mehr der Versuch einer äußeren Form anzusehen. Mein willkürliches Gekritzel, das die Gedanken enthielt, die ich oben ein wenig ausgearbeitet wiedergegeben habe, verlief quer über die ganze Seite. Verzweifelt studierte ich meine Aufzeichnungen. Meine Gedankenabläufe sind immer wohlgeordnet, doch der vorliegende Fall verschloß sich einfach dieser Art der Gliederung. Die Autoren von Kriminalromanen haben da keine Schwierigkeiten; sie erfinden das Verbrechen und die Aufklärung und können dann alles so entwickeln, wie es ihnen gefällt.
Ich beschloß, die Gliederung aufzugeben und meine Gedanken frei wandern zu lassen.
Schon allein aufgrund der Gelegenheit schieden alle Frauen als Verdächtige aus. Madame Berengeria verfügte über ein ausgezeichnetes Motiv; vielleicht war sie nicht im medizinischen Sinne verrückt, aber verrückt genug, um jeden aus dem Weg zu räumen, der sich ihrem selbstsüchtigen Besitzanspruch an ihre Tochter in den Weg zu stellen drohte. Allerdings wohnten Mary und sie am Ostufer. Die Leichen waren jedoch alle am Westufer gefunden worden. Ich konnte mir weder Mary noch ihre Mutter vorstellen, wie sie durch die dunklen Straßen von Luxor huschten, ein Boot mieteten, die Matrosen mit Geld zum Schweigen brachten und dann durch die Felder am Westufer eilten. Die bloße Vorstellung, daß Madame das nicht nur einmal, sondern öfter getan haben sollte, war lächerlich – außer sie hatte jemanden dafür bezahlt, den eigentlichen Mord zu begehen. Und obwohl Lady Baskerville am Tatort gewesen war, war es doch ebenso unwahrscheinlich, daß eine elegante, dem Müßiggang ergebene Dame in solche Umtriebe verwickelt war. Besonders der Mord an Armadale stellte mich vor ein Rätsel, das ich in meinem ersten Versuch einer Tabelle bereits angesprochen hatte.
Als ich an diesem Punkt meiner Überlegungen angelangt war, trafen Mr. Vandergelt und Mr. O’Connell ein, die sich zufällig an der Anlegestelle begegnet waren. Ich war froh, von meinen vergeblichen Bemühungen ablassen zu können, denn ich hatte beschlossen, daß ich die ganze Zeit über recht gehabt hatte.
Mr. Vandergelts erste Frage drehte sich um den Stand unserer Arbeiten am Grab.
»Sie haben die Wand doch nicht etwa schon durchbrochen?« wollte er wissen. »Mrs. Amelia, ich werde es Ihnen nie verzeihen, wenn Sie nicht auf mich gewartet haben.«
»Ich glaube, Sie sind gerade rechtzeitig gekommen«, gab ich zurück und versteckte hastig meinen Block unter einem Scherbenhaufen. »Ich wollte gerade hinuntergehen und nachsehen, wie die Sache vorankommt.«
Wir begegneten Mary, die auf dem Weg nach draußen war. Sie war völlig verschwitzt und von Kopf bis Fuß schmutzig, aber ihre Augen funkelten triumphierend, und sie zeigte uns eine großartige Zeichnung, das Ergebnis ihrer Mühen unter solch unbequemen Bedingungen. Das Kunstwerk kam, wie ich dachte, Evelyns Gemälden nicht gleich. Aber vielleicht bin ich auch voreingenommen. Ganz sicher handelte es sich um eine fachmännisch ausgeführte Arbeit, und ich wußte, daß Emerson damit zufrieden sein würde.
Mr. O’Connell redete mit übertrieben irischem Tonfall auf Mary ein und schleppte sie fort, damit sie sich ausruhte. Vandergelt und ich stiegen die Stufen hinab.
Die gerade erst fertiggestellte Holzkonstruktion befand sich schon an ihrem Platz über dem Schacht, und die Männer schickten sich eben an, ein Loch in die Wand zu schlagen.
»Ach, da seid ihr ja«, bemerkte Emerson überflüssigerweise. »Ich wollte euch gerade holen gehen.«
»Das können Sie Ihrer Großmutter erzählen«, meinte Vandergelt. »Aber nichts für ungut, Professor, an Ihrer Stelle hätte ich auch nicht warten wollen. Wie geht es jetzt weiter?«
Ich möchte meinen Lesern technische Einzelheiten ersparen. Man kann sie in Emersons ausgezeichnetem Bericht nachlesen, der in diesem Herbst in der Zeitschrift für Ägyptische Sprache erscheinen wird. Es genügt also zu sagen, daß das Loch gebohrt wurde und Emerson hindurchblickte. Vandergelt und ich, die mit angehaltenem Atem warteten, hörten ihn aufstöhnen.
»Was ist?« rief ich. »Eine Sackgasse? Ein leerer Sarkophag? Schone uns nicht, Emerson.«
Schweigend gab Emerson uns den Weg frei. Vandergelt und ich legten beide jeweils ein Auge an die Öffnung.
Ein weiterer Korridor führte hinab in die Dunkelheit. Er war halb mit Schutt angefüllt – nicht mit den absichtlich aufgeschütteten Kalksteinchen wie der erste Gang, sondern mit Bruchstücken einer eingestürzten Decke und Wand, vermischt mit Splittern vergoldeten Holzes und Fetzen brauner Leinwand – den Überresten der Wickeltücher einer Mumie.
Ich zog die Kerze vom Loch zurück und hielt sie hoch. In ihrem Licht sahen wir uns enttäuscht an.
»Das ist bestimmt nicht die Grabkammer!« rief Vandergelt.
Emerson schüttelte den zerzausten Schopf, der nun mit grauem Staub bedeckt war. »Nein. Anscheinend wurde das Grab für spätere Beisetzungen benutzt, und die Decke ist eingestürzt. Es wird eine langwierige und mühselige Arbeit werden, die Trümmer herauszuschaffen und den Schutt zu sieben.«
»Nun, dann fangen wir doch gleich an«, meinte Vandergelt und wischte sich die schweißnasse Stirn.
Emersons Lippen formten sich zögernd zu einem Lächeln, als er den Amerikaner musterte. Eine Viertelstunde in dem überhitzten Korridor hatten Vandergelt von einem eleganten Gentleman und gutaussehenden Mann von Welt in ein Geschöpf verwandelt, dem man wohl auch im billigsten Londoner Hotel den Zutritt verweigert hätte. Es tropfte aus seinem Spitzbart, sein Gesicht war weiß von Staub, und sein Anzug hing an ihm herunter. Aber er strahlte vor Begeisterung über beide Wangen.
»Ganz richtig«, sagte Emerson. »Fangen wir gleich an.«
Vandergelt zog das Sakko aus und krempelte die Ärmel hoch.
Die Sonne hatte den Zenit überschritten und ihre Reise gen Westen angetreten, als Emerson eine Arbeitspause einlegen ließ. Ich war oben geblieben und hatte mit Mary ein unterhaltsames Gespräch von Frau zu Frau geführt. Sie erwies sich als bemerkenswert widerstandsfähig gegen meine Versuche, herauszufinden, welchen ihrer Verehrer sie bevorzugte. Beharrlich bestand sie darauf, daß ihre Präferenzen unwichtig seien, da sie nicht beabsichtige zu heiraten. Ich glaube, daß ich kurz davor war, ihr Vertrauen zu gewinnen, als wir durch die Ankunft zweier staubiger, zerzauster Vogelscheuchen unterbrochen wurden.
Vandergelt ließ sich unter dem Zeltdach auf den Boden fallen. »Ich hoffe, die Damen werden mich entschuldigen. Im Augenblick ist mein Äußeres nicht eben angemessen, um dem schönen Geschlecht Gesellschaft zu leisten.«
»Sie sehen aus wie ein richtiger Archäologe«, lobte ich ihn. »Trinken Sie eine Tasse Tee und ruhen Sie sich aus, ehe wir wieder hinuntergehen. Irgendwelche Ergebnisse, meine Herren?«
Wieder verweise ich den Leser auf die einschlägigen Veröffentlichungen, die in Kürze erscheinen werden. Wir führten ein angeregtes und äußerst erbauliches Fachgespräch. Auch Mary schien Gefallen daran zu finden; ihre schüchternen Fragen waren sehr vernünftig. Offensichtlich widerstrebend stand sie schließlich auf und verkündete, daß sie gehen müsse.
»Darf ich Miss Mary begleiten?« fragte Karl. »Es ist nicht richtig, daß sie allein umherläuft …«
»Ich brauche Sie hier«, meinte Emerson geistesabwesend.
»Ich werde die Dame begleiten«, sagte O’Connell. »Außer, Professor, die Sache, über die wir letzte Nacht gesprochen haben, steht kurz bevor.«
»Wovon redet er?« fragte Emerson mich.
»Sie müssen sich doch erinnern«, beharrte O’Connell. »Die Nachricht – der Beweis, der … äh …«
»Nachricht? Ach, ja. Warum können Sie sich nicht klar ausdrücken, junger Mann, anstatt so gräßlich geheimnisvoll herumzureden? Es muß an Ihrem Beruf liegen, dieses ständige Herumschleichen und Spionieren. Wie ich Ihnen, wenn ich mich recht erinnere, bereits gesagt habe, wird der Bote wahrscheinlich nicht vor morgen früh eintreffen. Also laufen Sie schon los.«
Dann nahm Emerson mich beiseite. »Amelia, ich möchte, daß du ebenfalls zum Haus zurückgehst.«
»Warum?«
»Die Angelegenheit steuert auf den Höhepunkt zu. Milverton – verdammt, ich meine, der junge Baskerville – ist möglicherweise noch nicht außer Gefahr. Hab ein Auge auf ihn. Und sorge dafür, daß jeder weiß, daß ich die entscheidende Nachricht morgen erwarte.«
Ich verschränkte die Arme und sah ihn unverwandt an. »Wirst du mich in deine Pläne einweihen, Emerson?«
»Aber, Amelia, du kennst sie doch sicher schon.«
»Keinem vernünftig denkenden Menschen ist es möglich, den eigenartigen geistigen Verirrungen zu folgen, die das männliche Geschlecht mit Logik verwechselt«, erwiderte ich. »Trotzdem deckt sich die von dir vorgeschlagene Vorgehensweise zufällig mit meinen eigenen Plänen. Deshalb werde ich tun, was du verlangst.«
»Vielen Dank«, sagte Emerson.
»Bitte, gern geschehen«, antwortete ich.
Mary und Mr. O’Connell waren in Vandergelts Kutsche davongefahren. Ich nahm den Pfad über die Hügel und erreichte deshalb zuerst das Haus. Obwohl es mir inzwischen zur lieben Gewohnheit geworden war, durch das Fenster meines Schlafzimmers zu klettern, beschloß ich, bei dieser Gelegenheit das Haus, wie es sich gehörte, durch das Tor zu betreten. Ich wollte, daß meine Anwesenheit bemerkt wurde.
Als ich den Hof betrat, kam Lady Baskerville aus ihrem Zimmer. Sie begrüßte mich ungewöhnlich freundlich. »Ach, Mrs. Emerson. Wieder ein hartes Tagewerk vollbracht? Gibt es irgendwelche Neuigkeiten?«
»Nur archäologischer Natur«, antwortete ich. »Aber das wird Sie vermutlich nicht interessieren.«
»Früher einmal. Was meinen Gatten begeisterte, begeisterte auch mich. Er sprach ständig darüber. Aber kann man mir jetzt einen Vorwurf daraus machen, daß über diesem ganzen Thema für mich der Schatten unglückseliger Erinnerungen liegt?«
»Wahrscheinlich nicht. Hoffen wir trotzdem, daß diese Erinnerungen mit der Zeit verblassen. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß Mr. Vandergelt sein Engagement für die Ägyptologie jemals aufgeben wird, und er wird wollen, daß seine Gattin es mit ihm teilt.«
»Selbstverständlich«, meinte Lady Baskerville.
»War Ihre Fahrt nach Luxor erfolgreich?« fragte ich.
Die finsteren Züge der Dame erhellten sich. »Ja, die Vorbereitungen sind in die Wege geleitet. Und ich habe einiges auftreiben können, was angesichts der Umstände gar nicht so schlecht ist. Kommen Sie mit in mein Zimmer, damit ich Ihnen meine Einkäufe zeigen kann. Die Hälfte des Vergnügens an neuen Kleidern liegt darin, sie einer anderen Frau vorzuführen.«
Ich wollte schon ablehnen, aber Lady Baskervilles plötzliche Freude an meiner Gesellschaft kam mir in höchstem Maße verdächtig vor. Also beschloß ich, sie zu begleiten, um ihre wahren Motive herauszufinden.
Ich glaubte, eines der Motive zu verstehen, als ich die Unordnung in ihrem Zimmer sah. Überall lagen Kleidungsstücke herum, die sie aus ihren Schachteln genommen hatte. Ganz automatisch fing ich an, sie auszuschütteln und ordentlich zusammenzufalten.
»Wo ist Atiyah?« fragte ich. »Eigentlich wäre das doch ihre Arbeit.«
»Wußten Sie es nicht? Die schreckliche Frau ist davongelaufen«, lautete die gleichgültige Antwort. »Was halten Sie von diesem Mieder? Es ist nicht sehr hübsch, aber …«
Der Rest ihrer Worte rauschte an meinem Ohr vorbei. Ich wurde von einer bösen Vorahnung ergriffen. War Atiyah auch zum Opfer geworden?
»Man sollte etwas unternehmen, um die Frau ausfindig zu machen«, sagte ich, womit ich Lady Baskervilles kritische Ausführungen bezüglich eines bestickten Frisierumhangs unterbrach. »Vielleicht ist sie in Gefahr.«
»Welche Frau? Ach, Atiyah.« Lady Baskerville lachte. »Mrs. Emerson, das arme Geschöpf war drogensüchtig. Haben Sie das nicht bemerkt? Wahrscheinlich hat sie ihren Lohn in Opium umgesetzt und liegt jetzt völlig berauscht in einer Opiumhöhle in Luxor. In den nächsten Tagen komme ich auch ohne Mädchen zurecht. Gott sei Dank werde ich bald in die Zivilisation zurückkehren, wo es auch anständige Dienstboten gibt.«
»Wollen wir hoffen«, erwiderte ich höflich.
»Aber ich vertraue darauf, daß Radcliffe mich erlöst. Hat er nicht versprochen, daß all unsere Zweifel und Fragen heute ein Ende haben würden? Cyrus und ich würden Sie alle nur ungern zurücklassen, solange wir nicht sicher wären, daß Sie nicht mehr in Gefahr schweben.«
»Offenbar wird dieser lang ersehnte Augenblick nicht vor morgen früh eintreten«, meinte ich trocken. »Emerson hat mir gesagt, sein Bote sei aufgehalten worden.«
»Heute, morgen, was macht das für einen Unterschied? Solange es nur bald ist.« Lady Baskerville zuckte die Achseln. »Und das, Mrs. Emerson, wird mein Hochzeitshut. Wie gefällt er Ihnen?«
Sie setzte sich den Hut – einen breitkrempigen Kopfputz, der mit fliederblauen Bändern und rosafarbenen Seidenblumen verziert war – auf den Kopf und befestigte ihn mit zwei juwelenverzierten Hutnadeln. Als ich nicht sofort antwortete, blitzte ein wütender Funke in ihren schwarzen Augen auf.
»Verurteilen Sie mich, weil ich mich so leichtfertig kleide, obwohl ich doch Trauer tragen sollte? Erwarten Sie etwa, daß ich die Bänder durch schwarze ersetze und die Blumen braun färbe?«
Ich verstand die Frage so, wie sie gemeint war, nämlich sarkastisch, und sagte nichts darauf. Ich hatte andere Dinge im Kopf. Ganz offensichtlich war Lady Baskerville über mein mangelndes Interesse erzürnt, und als ich mich erhob, um zu gehen, drängte sie mich nicht zum Bleiben.
Als ich aus Lady Baskervilles Zimmer kam, fuhr die Kutsche gerade durch das Tor. Die jungen Leute hatten keinen Grund, sich zu beeilen. Nachdem Mary mich begrüßt hatte, fragte sie mich, ob ich ihre Mutter gesehen hätte.
»Nein, ich war bei Lady Baskerville. Wenn Sie sich noch ein paar Minuten gedulden, bis ich nach Arthur geschaut habe, begleite ich Sie.«
Mary stimmte diesem Vorschlag gern zu.
Die Nonne begrüßte uns mit leuchtenden Augen und machte wegen der Neuigkeiten, die sie uns mitzuteilen hatte, ein glückliches Gesicht. »Es sieht ganz so aus, als käme er wieder zu Bewußtsein. Es ist ein Wunder, Madame. Das ist die Kraft des Gebets!«
Das ist die Kraft der Hühnersuppe, dachte ich bei mir. Aber ich sagte es nicht. Sollte die gute Frau doch ihre Illusionen haben.
Arthur war entsetzlich mager – selbst die Kraft von Hühnersuppe hat ihre Grenzen –, doch er hatte in den letzten vierundzwanzig Stunden erstaunliche Fortschritte gemacht. Als ich mich über das Bett beugte, regte er sich und murmelte etwas. Ich bedeutete Mary, näher zu kommen.
»Sprechen Sie mit ihm, meine Liebe. Sehen wir, ob es uns gelingt, ihn aufzuwecken. Wenn Sie wollen, können Sie seine Hand halten.«
Kaum hatte Mary die abgezehrte Hand in die ihre genommen und den Namen des jungen Mannes gerufen, als seine langen, goldenen Wimpern flatterten und er den Kopf in ihre Richtung wandte.
»Mary«, murmelte er. »Sind Sie es oder ein Engel?«
»Ich bin es«, antwortete das Mädchen, und die Freudentränen liefen ihr über die Wangen. »Wie glücklich bin ich, daß es Ihnen besser geht!«
Ich fügte einige angemessene Worte hinzu. Arthurs Blick wanderte zu mir hinüber. »Mrs. Emerson?«
»Ja. Jetzt wissen Sie wenigstens, daß Sie nicht gestorben und in den Himmel gekommen sind.« (Ich war schon immer der Ansicht, daß ein wenig Humor derartige Situationen entkrampft.) »Ich weiß, Sie sind noch schwach, Arthur«, fuhr ich fort. »Aber um Ihrer eigenen Sicherheit willen hoffe ich, daß Sie mir eine Frage beantworten können. Wer hat Sie niedergeschlagen?«
»Niedergeschlagen?« Der Kranke runzelte die Stirn. »Hat jemand … ich kann mich nicht erinnern.«
»Was ist das letzte, woran Sie sich erinnern?«
»Lady … Lady Baskerville.« Mary schnappte nach Luft und sah mich an. Ich schüttelte den Kopf. Jetzt war auf keinen Fall der richtige Zeitpunkt, um auf der Grundlage der verwirrten Erinnerung eines Verwundeten übereilte Schlußfolgerungen zu ziehen.
»Was ist mit Lady Baskerville?« fragte ich.
»Hat gesagt … ausruhen.« Arthurs Stimme wurde noch schwächer. »Bin in mein Zimmer gegangen … hingelegt …«
»Und sonst erinnern Sie sich an nichts?«
»Nichts.«
»Nun, mein lieber Arthur, überanstrengen Sie sich nicht weiter. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Ich kümmere mich um alles.«
Ein Lächeln spielte um die Lippen des jungen Mannes. Seine müden Lider schlossen sich.
Als wir zu Madames Zimmer gingen, meinte Mary seufzend: »Nun kann ich leichteren Herzens fortgehen. Die Sorge um seine Sicherheit ist nun von uns genommen.«
»Richtig«, sagte ich. »Wenn er im Schlaf niedergeschlagen wurde, wie es der Fall zu sein scheint, hat er das Gesicht des Schurken nicht gesehen. Also gibt es keinen Grund, warum er nochmals angegriffen werden sollte. Trotzdem bereue ich die Sicherheitsmaßnahmen nicht. Wir durften kein Risiko eingehen.«
Mary nickte, obwohl ich nicht glaubte, daß sie mir wirklich zugehört hatte. Je näher wir dem Zimmer kamen, das ihr wie die stinkende Höhle eines Trolls vorkommen mußte, desto langsamer ging sie. Ein Zittern lief durch ihren Körper, als sie die Hand nach dem Türknauf ausstreckte.
Der Raum lag in Dunkelheit, da die Rolläden heruntergelassen waren, um die Nachmittagssonne abzuhalten. Das Dienstmädchen lag zusammengekauert auf einer Matte am Fuß des Bettes. Sie sah aus wie eine Tote, aber sie schlief nur; ich konnte sie atmen hören.
Mary berührte ihre Mutter sanft am Arm. »Mutter, wach auf. Ich bin zurück, Mutter.«
Auf einmal fuhr sie zurück und schlug die Hände vor die Brust. Ich sprang hin, um sie zu stützen. »Was ist?« schrie ich. Aber sie schüttelte nur benommen den Kopf.
Nachdem ich sie in einen Sessel verfrachtet hatte, ging ich zum Bett hinüber. Man muß seine Phantasie nicht besonders anstrengen, um sich auszumalen, was ich vorfand.
Als wir eintraten, hatte Madame Berengeria mit dem Rücken zur Tür auf der Seite gelegen. Marys Berührung, so sanft sie auch gewesen sein mochte, hatte ihren Körper aus dem Gleichgewicht gebracht und ihn auf den Rücken rollen lassen. Nach einem Blick auf die starren Augen und den schlaffen Mund war mir alles sonnenklar. Es wäre gar nicht nötig gewesen, daß ich nach dem nicht vorhandenen Puls suchte, obwohl ich das rein gewohnheitsmäßig tat.
»Mein liebes Kind, das hätte jederzeit geschehen können«, sagte ich, nahm Mary bei den Schultern und schüttelte sie liebevoll. »Ihre Mutter war eine kranke Frau, und Sie sollten ihren Tod als willkommene Erlösung sehen.«
»Meinen Sie«, flüsterte Mary. »Meinen Sie, es war … ihr Herz?«
»Ja«, antwortete ich wahrheitsgetreu. »Ihr Herz ist stehengeblieben. Nun, mein Kind, gehen Sie und legen Sie sich hin. Ich werde alles Notwendige veranlassen.«
Die falsche Schlußfolgerung, die ich Mary hatte ziehen lassen, hatte sie sichtlich erleichtert. Später war noch Zeit genug, daß sie die Wahrheit erfuhr. Inzwischen war die Araberin aufgewacht. Als ich mich ihr zuwandte, krümmte sie sich zusammen, als rechnete sie mit einem Schlag. Aber ich sah keinen Grund, ihr einen Vorwurf zu machen. Also sprach ich freundlich mit ihr und wies sie an, sich um Mary zu kümmern.
Nachdem die beiden gegangen waren, kehrte ich zum Bett zurück. Madames starre Augen und ihr hängender Kiefer waren kein angenehmer Anblick, doch ich hatte schon Schlimmeres gesehen und Schlimmeres tun müssen. Meine Hände waren ziemlich ruhig, als ich mich an meine gräßliche, aber notwendige Aufgabe machte. Ihr Körper war noch warm. Das bewies wenig, da es im Zimmer heiß war, aber ihre Augen verrieten mir die Wahrheit. Die Pupillen waren so stark erweitert, daß die Iris schwarz wirkte. Ganz gewiß war Berengerias Herz stehengeblieben, aber der Grund war eine Überdosis irgendeines Rauschgiftes gewesen.